Die Zwangsstörung zählt zu den herausfordernden psychischen Erkrankungen – laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) weltweit zu den zehn psychischen Krankheiten, die Menschen am meisten beeinträchtigen. Sie gilt als unheimlich quälend. Man spricht von 2-3% der Bevölkerung, die darunter leiden. Was steckt dahinter?
Wenn man Zwangsstörung hört, dann denken viele an Menschen, die sich ständig die Hände waschen und Türschlösser kontrollieren. Die meisten haben eher erheiternde Vorstellungen beispielsweise von Menschen, die Wäsche sortiert nach Farben aufhängen oder Bilder millimetergenau ausrichten. Das ist aber nicht das, was diese Erkrankung ausmacht.
Quälende Gedanken
Die Zwangserkrankung besteht darin, dass sich Gedanken, innere Bilder oder Handlungsimpulse beharrlich aufdrängen, immer wieder in den Kopf kommen und die Menschen quälen. Diese Bilder, Gedanken oder Handlungsimpulse sind deshalb so schwer auszuhalten, weil sie häufig einen schockierenden, abstoßenden, Ekel erregenden Inhalt haben. Es sind Themen, die großes Unbehagen und Stress auslösen. Diese sich immer wieder aufdrängenden Gedanken sind für die Menschen inakzeptabel. Sie streben danach, die richtigen Gedanken zu haben. Deshalb kämpfen sie mit allen Mitteln gegen diese unerwünschten Geistesblitze an.
Drei Beispiele aus meiner praktischen Arbeit:
Beispiel 1: Eine Mutter, die gerade in der Küche das Essen vorbereitete, hatte plötzlich den Gedanken, sie könnte ihr Baby mit einem Messer verletzen. Sie sah einen inneren Film ablaufen, wie sie zum Messer greift und ihr Baby damit schwer verletzt. „Mein Gott, mit mir stimmt was nicht, dass ich solche Gedanken habe. Ich bin verrückt und habe Angst, dass ich irgendwann durchdrehe.“ Dieser Gedanke hat sie so gequält, dass sie nicht mehr in der Küche arbeiten
konnte, wenn das Baby in der Nähe war.
Das menschliche Gehirn produziert fortlaufend Gedanken, manchmal auch
aufdringliche.
Beispiel 2: Ein Mann mittleren Alters, seit zehn Jahren verheiratet mit einer Frau, ist eines Abends mit Freunden unterwegs, sieht ein Paar, das sich in der Attraktivität auffallend unterscheidet. Er habe dabei gedacht: Ich würde eher mit diesem attraktiven Mann eine Beziehung führen als mit dieser hässlichen Frau. Daraufhin habe er seine sexuelle Orientierung hinterfragt. „Kann es sein, dass ich homosexuell bin? Wie kann ich mich von einem Mann angezogen fühlen, wenn ich doch Frauen liebe?“ Ein flüchtiger Gedanke stürzt diesen Mann in tiefe Selbstzweifel.
Beispiel 3: Eine junge Frau wäscht sich immer die Hände, wenn sie nach Hause kommt. Eines Tages ist sie unsicher, ob sie ihre Hände auch wirklich gewaschen hat. Daraufhin wäscht sie ihre Hände nochmals, diesmal etwas länger. Sie findet einfach kein Ende. Wiederholt seift sie sich die Hände ein und wäscht sie wieder. „Meine Hände fühlen sich nicht sauber an. Habe ich sie wirklich gewaschen?“
Der Kern ist der Zweifel
Die Mutter mit den aggressiven Zwangsgedanken, der Mann, der sich seiner sexuellen Orientierung nicht mehr sicher ist, und die junge Frau, die beim Hände waschen zu keinem Ende kommt – das hört sich zunächst so an, als wären das vollkommen unterschiedliche Geschichten. Was ist den Beispielen gemeinsam?
Der Kern jeder Zwangsstörung ist der Zweifel – Angst und eine tiefe Verunsicherung. Das haben alle Betroffenen gemeinsam. Der Zweifel kann sich thematisch auf alles Mögliche beziehen. Eine tiefe Verunsicherung, Zweifel hinsichtlich der eigenen Person, der eigenen Wahrnehmung oder dass man einem anderen Menschen schadet. Das wollen Betroffene auf jeden Fall verhindern. Die Gedanken, Bilder oder Impulse sind teilweise so schlimm, dass sich die Menschen fragen, wie sie nur so denken können. „Vielleicht bin ich so etwas wie eine tickende Zeitbombe und gefährlich für meine Liebsten.“ Die Menschen erleben häufig einen immensen Leidensdruck und verheimlichen ihre Gedanken, oft selbst vor nahen Angehörigen. Zwangserkrankte befürchten, dass man sie für verrückt und gefährlich hält, wenn sie ihre Gedanken teilen.
Fast jeder hat ab und an aufdringliche Gedanken
Vielleicht kennen Sie selbst auch solche Gedanken, ohne an einer Zwangsstörung zu leiden. Möglicherweise sind auch Sie mal unsicher, ob Sie den Herd wirklich ausgestellt haben, oder hatten nach einem schwierigen Konflikt mit dem Exmann den Gedanken, dass es einfacher wäre, wenn dieser nicht mehr leben würde. Aus Untersuchungen weiß man, dass die Mehrheit aus der Allgemeinbevölkerung von Zeit zu Zeit solch aufdringliche Gedanken haben. Das ist normal. Aus kognitionspsychologischer Sicht gehören solch aufdringliche Gedanken zu normalen mentalen Prozessen.
Hier geht’s weiter im Artikel:
https://irenamikic.com/wp-content/uploads/2024/04/Proof_Mikic_Wenn-der-Zweifel-krank-macht.pdf
Der Artikel ist Teil einer dreiteiligen Serie, die tiefer in die Welt der Zwangsstörungen eintaucht. Es werden nicht nur Herausforderungen beleuchtet, sondern auch konkrete praktische Tipps gegeben.
Dieser Artikel ist 2023 in „PflegeKolleg“ einer Fortbildungsreihe in der Zeitschrift Heilberufe – Pflege einfach machen, vom Springer Verlag erschienen.