Religiöse Zwangsgedanken

Die Zwangsstörung zählt zu den häufigeren seelischen Erkrankungen. Eine wenig untersuchte Ausprägung sind religiös- moralische Zwänge. Wer darunter leidet, hat ständig Angst vor Verfehlungen und davor, sich dadurch zu versündigen. Die Betroffenen leiden unter Scham- und Schuldgefühlen, unterziehen sich ritualisierten Zwangshandlungen (z.B. Gebeten, Waschritualen).

Fallbeispiel

Herr Habersaat, 22 Jahre alt, Elektriker, fromm, lebt mit seinen Eltern. Er leidet vor allem unter religiösen Zwangsgedanken. Die letzten fünf Tage seien für ihn ein wahrer Albtraum gewesen. Plötzlich habe sich ihm ein Gedanke aufgedrängt „Ich bin mächtiger als Gott.“ Er habe panische Angst bekommen. Sich über Gott zu erhöhen- sei die schlimmste Sünde, eine Todessünde, unverzeihlich. Satan Luzifer glaubte mächtiger zu sein als Gott und hat sich über ihn erhöht und Gott damit herausgefordert. Der Gedanke sei nicht nur ungehorsam, sondern verbinde mit Satan selbst. „Das ist die schlimmstmögliche Sünde, wenn du Gott verleugnest oder das Gefühl hast, größer als Gott zu sein. Ich bin vom Teufel besessen. Der Teufel ist in mir, er sagt mir, dass ich das denken muss. Gott vergibt alle Sünden, außer du wendest dich gegen ihn.“ Herr Habersaat hat Angst, dass ihm dadurch sein ersehnter Familienwunsch in diesem Leben verwehrt wird. Er hat Stunden mit exzessivem Beten verbracht, um sich von seiner Schuld zu entlasten und Gott zu besänftigen. Zwangsgedanken „bedrohen“ immer wichtige Werte im Leben einer Person.

Blasphemische Zwangsgedanken haben nur Menschen, die fromm und sehr gläubig sind.

Blasphemie bedeutet Gotteslästerung, Rufschädigung, es ist das Verhöhnen oder Verfluchen bestimmter Glaubensinhalte einer Religion oder eines Glaubensbekenntnisses. Eine wenig untersuchte Ausprägung sind religiös-moralische Zwänge. Wer darunter leidet, hat ständig Angst vor Verfehlungen und davor, sich dadurch zu versündigen. Die Betroffenen leiden unter Angst vor ewiger Verdammnis, Scham und Schuldgefühlen und unterziehen sich häufig ritualisierten Zwangshandlungen (z. B. Waschrituale, Gebete).

Religiöse Zwänge treten häufig in Kombination mit moralischen, magischen oder sexuellen Zwängen auf. Menschen mit religiösen Zwängen wenden sich vorwiegend an die Seelsorge. Pfarrer stellen für sie Respektpersonen dar. Empfiehlt die Seelsorge aufgrund der Zwangsstörung zusätzlich psychiatrisch-psychotherapeutische Hilfe zu suchen, nehmen Betroffene das ernst. Herr Habersaat etwa hat sich auf Anraten einer Seelsorgerin an mich gewandt, um an seinen Zwängen zu arbeiten. Günstig ist es, wenn derart Betroffene von einem Seelsorger und einer psychotherapeutischen Fachperson begleitet werden. Die psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachpersonen können an der Zwangssymptomatik arbeiten, die Seelsorge thematisiert mit Betroffenen Glaubensfragen. Häufig geht es darum, das strafende Gottesbild zu relativieren oder ungünstig interpretierte Glaubenstexte in einen lebensfreundlicheren, realistischeren Glaubenskontext zu stellen. Beispielsweise in Textstellen, in denen die Idee, dass Gedanken kontrolliert werden können oder Gedanken sündig sind erwähnt wird. In diesem Zusammenhang kann es darum gehen, dass ein Gedanke keine Sünde sein kann, weil er nur ein Gedanke ist und in der realen Welt keine Auswirkung hat.

Religiöse Zwangsgedanken über die Beichte zu entlasten ist trotz kurzfristiger Erleichterung kontraindiziert. Der zur Beichte gehörende Vorsatz, etwas nicht mehr zu tun, ist im Fall von Zwangsgedanken unmöglich, da diese sich nicht kontrollieren lassen.

Tipp

Identifizieren Fachpersonen einen blasphemischen Gedanken als einen Zwangsgedanken, ist es hilfreich den betroffenen Menschen ernst zu nehmen. Wichtig ist es, eine klare inhaltliche Distanzierung zum Gedanken herzustellen, das heißt, diesen in seiner (religiösen) Bedeutung nicht zu diskutieren.

Folgenden Tipp geben (Ciupka-Schön und Becks 2018):

„Ich habe den Eindruck, dass Sie sich in zwanghafter Weise in einem Gedanken verfangen haben. Ich habe das bei Gläubigen meiner Gemeinde schon einige Male miterlebt. In den meisten Fällen verschwinden diese Gedanken von alleine, wenn es Ihnen gelingt, Gott zu vertrauen und diesen blasphemischen Gedanken als bedeutungslos zu erkennen und zu akzeptieren. Je mehr Sie die Gedanken akzeptieren und je weniger Sie unternehmen, um diese Gedanken zu unterdrücken, desto besser! Ich bin fest davon überzeugt, dass Sie ein guter Christ/ Moslem sind und ich glaube, dass unser allmächtiger, allwissender Herrgott dies auch weiß. Im Gegenteil, ungläubige Menschen bekommen solche Gedanken gar nicht.“ Religiöse Zwangsgedanken und Zwangshandlungen werden sehr privat gehalten und nicht einmal in der religiösen Gemeinschaft ausgeführt. Die Betroffenen bemühen sich um Anpassung, ihre Rituale sind in der religiösen Gemeinschaft nicht von denen, die gemeinsam durchgeführt werden unterscheidbar.

Wie kann ein Seelsorger erkennen, ob eine Person von einer Zwangsstörung betroffen ist?

Besonders bei religiösen Inhalten ist es nicht einfach zu unterscheiden, ob ein Mensch sehr fromm ist und sich bemüht, alles richtig zu machen, oder ob Gedanken und Handlungen einen zwanghaften Charakter haben. Stellt ein Gemeindemitglied etwa dieselben, bereits öfter ausführlich thematisierten Fragen (z. B. „Für welche Sünden komme ich in die Hölle?“), sollten Seelsorger hellhörig werden. Die genaue Auslegung der Worte der heiligen Schrift ist für Zwangserkrankte sehr bedeutsam. Sollte ein Seelsorger feststellen, dass ein Gemeindemitglied die Heilige Schrift besser kennt als er selbst, kann dies auf einen religiösen Zwang hinweisen. Vermutet man religiöse Zwänge, ist es hilfreich, folgende Fragen zu stellen: Haben Sie häufig Gedanken, die sich um die Hölle, Gottes Verdammnis und andere weltliche Katastrophen drehen? Lösen diese Fragen eine starke Anspannung aus? Versuchen Sie, sich durch kontrollierende Handlungen zu beruhigen? (Ciupka-Schön und Becks 2018).

Rituale versus Zwangsrituale

Es ist hilfreich, zwanghafte Rituale von kulturellen oder alltäglichen Ritualen zu unterscheiden und inhaltlich deutlich abzugrenzen. Rituale strukturieren unser Leben, unterstreichen die Wichtigkeit einer Situation und helfen uns bei der emotionalen Verarbeitung. Sie sind kulturell bedeutsam. So begleiten sie den jahreszeitlichen Wechsel wie persönliche Übergänge, z. B. Schulbeginn, Lehrabschluss, Diplomfeier, Heirat, Taufe, Beerdigung. Sie stiften gesellschaftlichen Zusammenhalt. Eine Beerdigung beispielsweise unterstützt das gemeinsame Trauern und den bewussten Abschied von einem Verstorbenen. Zwangsrituale hingegen blockieren das innere Erleben und unterdrücken eine Verarbeitung oder Veränderung. Sie haben eine starre, sich ständig wiederholende Form ohne klaren Anfang und klares Ende und finden häufig spontan und einsam statt (Ciupka- Schön und Becks 2018).

Himmel und Hölle. Religiöse Zwänge erkennen und bewältigen.

Das Buch wurde von dem Psychiater Burkhard Ciupka-Schön und dem Pfarrer Hartmut Becks gemeinsam verfasst und ist aktuell das einzige Buch, das sich dem Thema der religiösen Zwänge widmet.

Beispiele von religiösen Zwangsgedanken

• Der Gedanke „Gott sei verflucht“

• Sexuelle obszöne Vorstellungen mit Heiligen

• Maria war eine Schlampe

Irena Mikic, Zwangsstörung und Zwangshandlungen- Eine Einführung für Pflege-, Gesundheits-und Sozialberufe

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